Der Vortrag, den ich nicht halten konnte – Seite 1
Marie-Luise Vollbrecht ist Doktorandin am Institut für Biologie der Humboldt-Universität Berlin. Die 32-Jährige hatte vergangenes Wochenende an der Universität einen Vortrag zum Thema "Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt" halten wollen. Nach Protest-Drohungen sagte die Uni die Veranstaltung ab. DIE ZEIT veröffentlicht hier einen eigens für sie verfassten Beitrag, in dem Vollbrecht schreibt, was sie hatte sagen wollen und warum.
Über das Thema Geschlecht zu sprechen, womöglich über wissenschaftliche Disziplinen hinweg, ist heutzutage gefährlich. Ich konnte es am vergangenen Wochenende nicht tun. Mein geplanter Vortrag bei der Langen Nacht der Wissenschaften an der Humboldt-Uni Berlin wurde abgesagt, nachdem eine Studentengruppe mich unter anderem als menschenfeindlich bezeichnet und eine Gegendemo organisiert hatte. Ich will deshalb an dieser Stelle schreiben, was ich zu sagen hatte.
Es wäre mir in meinem Vortrag um dreierlei gegangen: Zu erklären, warum es aus biologischer Sicht nur zwei Geschlechter gibt. Klarzumachen, dass Debatten um soziale Geschlechterrollen etwas anderes sind. Und zu begründen, warum ich es für falsch halte, wenn beides vermengt wird.
Die Geschlechterdebatte ist gespickt mit Missverständnissen und Sprachverwirrungen babylonischen Ausmaßes. Je nach Kontext kann "Geschlecht" im Deutschen ganz verschiedene Bedeutungen haben. Im Englischen wird die sprachliche Trennung durch die Worte sex für biologisches Geschlecht und gender für kulturell bedingte Geschlechterrollen getroffen. Im Gegensatz zum Geschlechterbegriff der Biologie – sex – bleibt die Definition im Hinblick auf geschlechtliche Identitäten – gender – aber unscharf.
In der Fachdisziplin der Biologie gilt bis heute: Das biologische Geschlecht des Menschen ist binär, es gibt männliche und es gibt weibliche Menschen. Wir werden männlich oder weiblich geboren und behalten unsere geschlechtliche Zugehörigkeit bis zum Ende des Lebens. Wir Menschen sind ein Produkt eines langen evolutionären Prozesses, seit der Geburtsstunde der sexuellen Fortpflanzung vor etwa 700 bis 800 Millionen Jahren. Die Rekombination durch Vereinigung zweier Individuen hat sich, bei fast allen Lebewesen, erfolgreich durchgesetzt, denn durch sie wird genetische Vielfalt erzeugt, ohne die Evolution und natürliche Selektion nicht funktionieren könnten.
Sexuelle Fortpflanzung erfordert die Produktion von Geschlechts- oder Keimzellen. Beim Menschen nennen wir diejenigen Individuen, die potenziell Spermien produzieren können, männlich, und diejenigen, welche potenziell Eizellen ausbilden können, weiblich. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern beschränken sich dabei nicht nur auf die primären Geschlechtsorgane, sie manifestieren sich auch in Anatomie und Physiologie des Körpers, auf molekularer und zellulärer Ebene, in Organen und Geweben.
Da an der Fortpflanzung stets nur zwei ungleiche Keimzellen, Spermium und Eizelle, beteiligt sind, beschränkt dies die Anzahl aller möglichen Geschlechter beim Menschen und anderen Säugetieren per Definition auf zwei. Dies wird auch als das Gesetz der allgemein bipolaren Zweigeschlechtlichkeit verstanden. Echter Hermaphrodismus, der sich dadurch auszeichnet, dass funktionsfähige männliche und weibliche Geschlechtsanlagen in einem Individuum, einem Zwitter, vorkommen, ist beim Menschen, ja bei allen Säugetieren unbekannt. Entgegen landläufigen Meinungen stellt der sehr seltene Pseudohermaphroditismus, eine Form der sogenannten Intersexualität, ebenfalls kein weiteres oder drittes Geschlecht im biologischen Sinne dar, da weder ein neuer Geschlechtszellentyp noch ein weiteres funktionales Gewebe entwickelt wird.
Intersexualität steht für eine Vielzahl von potenziellen Diagnosen. Sie kann laut internationaler Klassifikation ICD-10 rund fünfzig verschiedene Ursachen haben, etwa Chromosomenanomalien, fehlende Enzyme oder versagende Hormonrezeptoren. Neueste Beiträge in medizinischen Fachzeitschriften gehen davon aus, dass ungefähr eines von 4500 Neugeborenen ein primär nicht eindeutig zuzuordnendes äußeres Genital hat. Auch in diesen wenigen Fällen bedeutet das nicht, dass man, biologisch betrachtet, von einem weiteren (dritten) Geschlecht (also nach der englischen Definition sex) sprechen kann.
"Sex" und "gender" dürfen nicht austauschbar verwendet werden
Doch selbst in der Wissenschaft macht sich seit einigen Jahren Verunklarung breit. Immer öfter hielt in biomedizinischen Publikationen der Begriff gender Einzug; selbst in der Fachliteratur finden sich inzwischen zahlreiche Studien, bei denen das Wort gender im Titel auftaucht, statt korrekterweise das Wort sex. 2019 veröffentlichte das Fachjournal Experimental & Molecular Medicine einen kurzen, eindringlichen Kommentar Sex, not gender. A plea for accuracy ("Sex, nicht gender. Ein Plädoyer für Genauigkeit"). In dem Artikel wurde auf die Gefahr des Verlustes guter wissenschaftlicher Praxis hingewiesen, falls die Begriffe sex und gender weiterhin synonym verwendet und, wie in der Wissenschaft üblich, von anderen aufgegriffen, zitiert und repliziert würden. Die falsche, synonyme Verwendung von gender und sex stammt also aus dem angloamerikanischen Raum.
Die medizinische Organisation Endocrine Society in den USA sah sich im Juni 2021 genötigt, ein detailliertes wissenschaftliches Statement als Handreichung für Forschende herauszugeben, welches die simplen Grundsätze der Zweigeschlechtlichkeit erläutert und die Unabdingbarkeit der Variable Geschlecht im Sinne von sex im Hinblick auf die Planung und Auswertung klinischer Studien betont.
Sex und gender dürfen nicht austauschbar verwendet werden. Gender bezieht sich auf die Eigen- und Fremdwahrnehmung der Geschlechterrolle abhängig vom kulturellen Umfeld. Die Worte männlich und weiblich, welche in der Biologie reine Zustandsbeschreibungen von Körpern sind, werden in den Genderwissenschaften wahlweise synonym zu feminin oder maskulin verwendet oder gezielt dekonstruiert. Gender ist also ein soziales oder psychologisches Phänomen. Gender hat keinen Einfluss auf das Geschlecht im Sinne von sex.
Mir ist diese Unterscheidung deswegen so wichtig, weil die Auswirkungen der sprachlichen Verzerrung folgenschwer sind. Sie untergraben die internationalen Anstrengungen biomedizinischer Forschung, den weiblichen und männlichen Körper differenziert zu sehen. Denn die Analyse wissenschaftlicher Daten setzt eine korrekte Aufnahme des Geschlechts voraus. Gerade erst hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass – etwa in der Medikamentenforschung – nicht mehr der männlichen Körper als Standard gesetzt werden sollte, sondern die Besonderheiten des Frauenkörpers berücksichtigt werden müssen. 2014 knüpfte das Nationale Gesundheitsinstitut der USA, die größte Einrichtung zur Forschungsförderung weltweit, seine Fördergelder an die Bedingung, das Geschlecht als biologische Variable zu berücksichtigen. Diesen Fortschritt droht die neue Sprachverwirrung zurückzudrehen.
Die Vermischung der Begriffe sex und gender und die entstehende Konfusion sorgen dafür, dass ein großer Teil der Öffentlichkeit sich nicht mehr so recht in der Lage sieht, Geschlecht zu definieren und eine Aussage darüber zu treffen, ob es denn nun zwei, drei, ein Spektrum oder unendlich viele Geschlechter gibt. Irrtümer wie der, dass die Zweigeschlechtlichkeit längst "widerlegt" sei, finden über populärwissenschaftliche Artikel und Blogs den Weg in die Mitte der Gesellschaft. So titelte der Tagesspiegel 2016: "Gender in der Biologie. Es gibt mehr als zwei Geschlechter", und fand sogar einen Biologen, der behauptete, das "einfache Modell biologischer Zweigeschlechtlichkeit" habe ausgedient. Das sei in der Biologie "inzwischen anerkannt", so der Teaser im Tagesspiegel. Nein, das ist es nicht. Stattdessen werden Biologen, die versuchen, über Zweigeschlechtlichkeit aufzuklären, inzwischen offen und regelmäßig angefeindet. Die Frage nach Geschlecht und die biologische Zweigeschlechtlichkeit ist längst zu einem Kriegsschauplatz des Kulturkampfs geworden.
Warum erzeugt der simple Verweis auf eine biologische Tatsache eine solche Aggression? Es ist ein logischer Fehlschluss, aus dem Verweis auf die Existenz von nur zwei Geschlechtern in der Biologie eine Wertung oder moralische Forderungen abzuleiten. Natürlich, der Mensch ist nicht nur ein Produkt der Natur – er ist ebenso ein Kulturwesen. Gender aber fällt nun einmal nicht in den Bereich der Biologie. Gleichzeitig kann sich die Genderwissenschaft nicht der Biologie bedienen und sich auf einen natürlichen Ursprung der Idee der Gender beziehen.
Ich bin nicht menschenfeindlich, im Gegenteil, ich habe große Sympathien mit allen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Andersseins diskriminiert werden. Politisch stehe ich weit links. Aber ich bin eben dagegen, normative und soziale Fragen auf Kosten naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu debattieren.
Kommentare
übel
#1 — vor 9 MonatenWas die Autorin auslässt, ist eine Beschreibung wie mit Intersexualität aus biologischer Sicht umzugehen ist - ok, es gibt nur zwei Keimzelltypen aber welchen "sex" haben Menschen die beide oder keine der Zellen in ihrem Körper haben? Es macht doch wenig Sinn diese als männlich oder weiblich zu bezeichnen.
the_nipper
#1.1 — vor 9 MonatenGibt es das denn? Die Autorin schreibt nämlich:
„Echter Hermaphrodismus, der sich dadurch auszeichnet, dass funktionsfähige männliche und weibliche Geschlechtsanlagen in einem Individuum, einem Zwitter, vorkommen, ist beim Menschen, ja bei allen Säugetieren unbekannt.”
gandideluxe
#2 — vor 9 MonatenMuss es jetzt wirklich soweit kommen, dass solche Beitraege in der Oeffentlichkeit gecancelt werden? Ich finde das sehr schade, da besonders bei dem Thema ein sehr grosser Diskussionsbedarf und vor allem gesselschaftlicher Findungsbedarf besteht. Ich hoffe sehr, dass in 10 Jahren diesem Thema nicht mehr so viel Raum gewidmet werden muss und eine gesellschaftliche neue Norm geschaffen worden ist.
schnuri_
#2.1 — vor 9 MonatenSie lesen den Artikel gerade auf ZON, wo ist der denn gecancelt?
Zeta6
#3 — vor 9 MonatenUnaufgeregt geschrieben. Wissenschaftlich eben.
Wie viel weiter wir sein könnten, wenn alle Diskussionsbeiträge in solche einem Stil verfasst wären.
ndrgrwl
#3.1 — vor 9 MonatenWas mich noch interessiert hätte wäre eine Behandlung des Aspekte mittels hormoneller und Chirurgischer Eingriffe das Geschlecht (Sex) anzupassen.
Aktuell ist es ja noch nicht möglich damit Fortpflanzungsfähigkeit zu erlangen (oder?). Sollte es aber möglich sein, so wäre dem Menschen ein Übergang zwischen den Geschlechtern (im Sinne von sex) ja dann doch möglich.
Karmakarl
#4 — vor 9 MonatenStatt vor diesem Vortrag Angst zu haben, sollte man ihn eher zur Pflicht für alle machen. Sagen wir ab Klasse 8 oder 9?
Benjamin211
#4.1 — vor 9 MonatenGerne. Und zum wissenschaftlichen Ausgleich auch ein sozialwissenschaftlicher Vortrag über die Unterschiede zwischen sex und gender.